Vom einstigen Gemeindeacker für Kühe und Schweine entwickelte sich das Gebiet des heutigen Stadtteils St. Georg zur Materiallagerstelle handwerklich tätiger Personen. Parallel dazu wurden an diesen Ort Arbeitsstrukturen gedrängt, die innerhalb der Stadtmauern Hamburgs keinen Platz haben sollten, wie das Ausüben von Sexarbeit. Mit der Auflösung der Vorstadt 1868 und der Vereinigung von Hamburg und St. Georg stieg die Bevölkerungsdichte St. Georgs enorm an und wurde zu einem beliebten Wohnviertel. Eines dieser, für den rasch wachsenden Stadtteil gebauten Wohnhäuser wurde im Jahr 1894 erbaut und steht noch heute in der Brennerstraße 80/82. Das Wohnhaus bietet Platz für 10 Wohneinheiten, von denen derzeit 8 Wohnungen bewohnt sind. Jede der Wohnungen hat drei kleine Zimmer, eine kleine Küche, eine winzige Toilette und eine Kammer. Bäder gibt es keine und auch die heutige Heizsituation erinnert noch an die Zeit der Errichtung des Gebäudes. In einigen Wohnungen wird mit Kohle geheizt, andere haben Elektroheizkörper, wieder andere haben im Laufe der Zeit fest installierte Heizungen erhalten. Auch für die fehlenden Bäder wurden Lösungen gefunden – kleine integrierte Duschen in den Küchen, mal abgetrennt von einer dünnen Rigipswand, mal versteckt hinter einem Vorhang, in anderen Wohnungen freistehend neben der Küchenzeile. In jeder Wohnung und jeder Nische kann man verschiedene Nutzungsgeschichten und historische Zeitschichten ablesen. Im zweiten Weltkrieg hat eine Bombe nur knapp das Haus verfehlt. Die schiefen Balken, Wände und Türzargen im mittleren Gebäudeteil, verweisen wie Fluchtlinien auf die Detonationsstelle im Garten. Um die fünfzig Jahre später gab es eine weitere Explosion im Haus. In einer der beiden Souterrainflächen, die nicht als Wohnraum dienen, kam es zu einer Gasexplosion, die vom Mieter, der hier ein Bordell betrieben hat, mutwillig erzeugt wurde. Im Zuge dessen wurde eine Wohnung vorübergehend unbewohnbar, später erhielt sie als einzige Wohnung ein Badezimmer.
Alle anderen Instandhaltungsmaßnahmen mussten in den letzten Jahrzehnten von den Bewohner:innen selbst gestemmt werden. Das Haus kommuniziert auch nach Außen eine Sanierungsträgheit – in einem humorvollen Schlagabtausch fragen Graffitisprayer mit einem farbigen Schriftzug auf einer fleckig, improvisiert gestrichenen Wand ‚Hast du noch graue Farbe?‘. Eine Antwort vom Eigentümer folgt nicht. Die Bewohner:innen stecken ihre Energie in die eigenen Nutzflächen, wie zum Beispiel den Gemeinschaftsgarten mit groß gewachsenen Obstbäumen. Hier, inmitten der Stadt, vergisst man das pulsierende Drumherum des Bahnhofsviertels und spürt ein Stück Gemeindeacker noch heute inmitten von St. Georg.
Stefan wohnt seit 40 Jahren in der Brennerstraße 80/82 und ist damit einer der längsten Mieter:innen. Er ist eine tragende Säule für die Hausgemeinschaft. Früher war er als Hausmeister angestellt, aber als er von der Hausverwaltung unerwartet gekündigt wurde, kümmerte er sich weiterhin um seine Nachbar:innen.
Als Angestellter an einer Schule war er oft in der glücklichen Lage, überschüssiges Essen mit nach Hause nehmen zu können. Dabei dachte er an seine Hausgemeinschaft und brachte regelmäßig für alle mit.
Er wusste, dass Isabelle im Winter mehrfach Kohle in den 4. Stock tragen musste. Wenn er im Erdgeschoss etwas herumstehen sah, brachte er davon immer mal wieder etwas zu ihr nach oben.
Als Schüler beschloss Holger im Jahr 1974 dem Willi-Bredel-Club (MSB Spartakus) beizutreten. Zu der Zeit befand sich der kleine Verein, für die ersten zwei Jahre seiner Mitgliedschaft, im Keller der Brennerstraße 80/82. Die Druckwerkstatt und ein einfacher Tisch wurden zu den Grundpfeilern des Willi-Bredel-Clubs. Es war ein Ort des Engagements, der Diskussionen und des aktiven Handelns.
Mit nur 17 Jahren wagte Holger zum ersten Mal den Schritt in die Kellerräume der Brennerstraße, die fortan zum Herzstück seines politischen Engagements werden sollten. Trotz der Kälte und des etwas heruntergekommenen Zustands der Räume empfand er sie als einen Ort der Möglichkeiten. Hier konnte er gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten politische Arbeit leisten, Ideen austauschen und Flugblätter drucken, um ihre Botschaften zu verbreiten.
Die Winter waren kalt und die Räume speckig, aber für Holger und seine Mitstreiter:innen waren sie ein Ort der Leidenschaft und des politischen Einsatzes.
Isabelle wohnt seit über 20 Jahren in der Brennerstraße 80/82, ist damit aber die zuletzt eingezogene Bewohnerin des Hauses. Als sie wegen der Liebe (zur Stadt) nach Hamburg kam, zog sie in dieses Haus ein. Zwischen 2003 und 2006 lebte sie in einer WG gegenüber ihrer aktuellen Wohnung zur Zwischenmiete. Als sie auswandern wollte, konnte sie ihre Sachen in der Wohnung lagern. Da das Projekt „Auswandern“ jedoch scheiterte, es aber schon einen Nachmieter für ihr damaliges Zimmer gab, zog Isabelle übergangsweise in eine kleine Kammer der Wohnung. Als 2007 nebenan dann ein Zimmer frei wurde, zog sie rüber und nach einiger Zeit bot sich dann die Gelegenheit, die gesamte Wohnung zu übernehmen.
„Was mir am meisten fehlen wird, ist die Aussicht", seufzte Isabelle, während sie aus ihrem Fenster schaut. Für sie ist der Blick aus ihrem Fenster nicht bloß eine Aussicht auf die Straße oder die umliegenden Gebäude. Da sich die Wohnung im obersten Stockwerk befindet, bietet sie den besten Panoramablick im Haus. Von ihrem Wohnzimmer aus kann man all die Hamburger Sehenswürdigkeiten sehen – den Michel, den Fernsehturm usw. – während man in Bad und Küche die andere Seite von Hamburg betrachten kann.
Isabelle ist die Einzige im Haus, die im Winter noch mit ihren Kohleöfen heizt. Ihre sogenannten Allesbrenner, nicht schöne, aber sehr funktionale Öfen, bezeichnet sie als „ihre Haustiere“, weil jeder Ofen einen eigenen Charakter hat und unterschiedlich das „Futter“ aka Heizmaterial annimmt und verbrennt. Treu, zuverlässig und stets bereit, sie in den kalten Monaten warm zu halten. Wenn das Wetter langsam kühler wird, muss sie Holz und Briketts zur obersten Etage tragen – natürlich ohne Fahrstuhl. Manchmal helfen andere Nachbar:innen aus der Hausgemeinschaft und tragen das Heizmaterial bis zu ihrem Geschoss hoch, damit Isabelle nicht immer alleine bis ganz nach oben tragen muss. Auch wenn es nicht die praktischste oder komfortabelste Wohnsituation ist, würde sie das Knistern des Holzes und die warme Gemütlichkeit des Ofens sehr vermissen.
Ulla war fast immer zuhause und die Tür stand stets offen, einladend für alle, die ein Gespräch suchten oder einfach nur auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen wollten. Doch am 18. August 1993 war etwas Ungewöhnliches geschehen. Ulla war nicht wie üblich in der Wohnung anzutreffen. Stattdessen hatte Ulla sich auf den Weg zum Hamburger Dom gemacht. In dieser Abwesenheit ereignete sich jedoch etwas Beunruhigendes: Eine Verpuffung im Keller unterhalb von Ullas Wohnung erschütterte die Ruhe der Hausgemeinschaft.
Es war eine beeindruckende Geste der Solidarität: Die Nachbar:innen hatten sich entschlossen, Geld zu sammeln, um Ulla zu helfen, die durch die Verpuffung beschädigten oder zerstörten Gegenstände neu zu beschaffen. Insgesamt konnten sie stolze 900 Deutsche Mark aufbringen – eine beträchtliche Summe für jene Zeit.
Diese unerwartete Hilfsbereitschaft zeigte, wie tragfähig die Bande zwischen den Nachbar:innen sein konnte, selbst in einer scheinbar anonymen Großstadtumgebung. Ulla war überwältigt von der Großzügigkeit und Unterstützung, die ihr in ihrer Not entgegengebracht wurde, und die Ereignisse hatten vielleicht sogar dazu beigetragen, die Gemeinschaft in dem Wohnhaus näher zusammenzubringen. Ulla lud als Dank zu Getränken und Snacks in den gemeinsamen und schönen Hinterhof ein.
Wegen der drohenden Ankündigung des Abrisses, entschied Ulla, in eine leerstehende Wohnung gegenüber zu ziehen. Es besteht weiterhin eine enge Freundschaft und Ulla blieb der Brennerstraße treu. Ihre alte Wohnung steht seitdem leer.